“Für Dieter Eikelpoth” von Michael Köhlmeier
Immer habe ich mich gefragt: Wie geht das eigentlich, Fotografieren?
Nehmen wir an, ein Maler lädt Dorian Gray in sein Atelier (wie uns Oscar Wilde berichtet), und er malt ihn, und er erkennt hinter dem glatten, lieblichen, fast mädchenhaften Gesicht die Bestie, die in diesem Menschen steckt, vorläufig noch in Potenz; dieser Maler ist ein Menschenkenner, wie wir sagen; es liegt in seiner Hand, malend, diese Vorahnung auf das künftige Ungeheuer in dem feinen gegenwärtigen Gesichtchen sichtbar zu machen. So arbeitet der Maler. So kann Malen gehen.
Aber was tut der Fotograf? Er hat vor sich, was er vor sich hat, und sonst nichts. Er schickt Licht auf das Gesicht, er kann einen Hintergrund festlegen, er kann den Schatten dirigieren; aber immer hat er vor sich, was er vor sich hat, und sonst nichts. Er kann nichts in das Bild hineingeben. Er kann nur herausnehmen. Ich denke: Er muss warten. Auf den richtigen Augenblick. Aber dann, wenn ich einem guten, einem wirklich guten, einem genialen Fotografen bei der Arbeit zusehe, dann stelle ich zu meinem Erstaunen fest: Die Anzahl der richtigen Augenblicke ist nicht geringer als die Anzahl der falschen Augenblicke. Das heißt: Der richtige Augenblick ist in jedem Augenblick enthalten ebenso wie der falsche.
Ich habe Dieter Eikelpoth bei der Arbeit kennengelernt. Ein Teil des Arbeitsmaterials war ich selbst. Ich stand ihm Portrait. Als erstes beeindruckte mich seine Entschlossenheit. Er wartete nicht. Er war sich bewusst, jeder Augenblick enthält ein richtiges und Zugleich ein falschen Bild. Und er hatte Zugriff auf das richtige.
Dieter hat mich tatsächlich als Material gesehen. Darf man sich einen bildenden Künstler so denken? Ich war für ihn Licht, Schatten und Form. Es hat mir sehr gut getan, diesen Mann bei der Arbeit zu begleiten. Ich habe eine Rechtfertigung für mein eigenes Vorgehen beim Schreiben gesehen. Die Menschen, über die ich schreibe, sind während des Schreibens Material. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Während des Schreibens habe ich nur Wörter zur Verfügung und sonst nichts. Ein Gefühl ohne Worte ist für die Literatur unbrauchbar wie ein Gesicht ohne Licht und Schatten für die Fotografie. Der Fotograf hat Licht und Schatten zur Verfügung – Dieter hat bei den meisten seiner Bilder auf Farbe verzichtet-, Licht und Schatten, sonst nichts.
Ich war in diesen zwei Stunden, während ich in Dieters Atelier war, gespalten. Ich war Objekt und Zuseher. Ich war Zeuge, wie Kunst entsteht. Nämlich aus einem eklatanten, eigentlich skandalösen Widerspruch heraus: Der Künstler, der es mit dem Menschen zu tun hat, benötigt ein Maximum an Empathie, zugleich aber muss er frei sein von aller Empathie — Inbegriff des Menschen und Inbegriff des Nicht-Menschen. Diese antagonistische Haltung eignet dem Fotografen wahrscheinlich mehr als jedem anderen Künstler. Aber jedem anderen Künstler würde diese Haltung gut tun. Der Kunst als solcher tut diese Haltung gut; sie ist die einzig mögliche, will einer Kunst hervorbringen.
Aber dann saßen Dieter und ich noch zusammen in seinem Büro. Und haben Kaffee getrunken. Und geplaudert. Und da standen Gitarren. Nicht irgendwelche Gitarren. Ganz besondere Stücke. Zum Beispiel die SJ-2OO von Gibson, die wahrscheinlich beste akustische Gitarre, die je gebaut worden ist. Ich kenne mich bei Gitarren aus, besser als bei Bleistiften.
Auch Dieter war begeistert von Gitarren. Da wächst ein Baum, und irgendwann wacht er auf und ist eine Gitarre…
Aber die Instrumente in Dieters Büro waren nicht mehr als Katalysatoren. Über unsere gemeinsame Liebe zu diesen Dingen konnte sich – wir hatten eben nicht viel Zeit – die Sympathie entfalten, die wir für einander empfanden, vom ersten Augenblick an. Wir haben uns gegenseitig von uns erzählt, aus unserem Leben, ein bisschen überhaspelt haben wir uns, wie ich mich erinnere. Aber was soll man machen, da muss man bis in die Sechzig hinein- oder hinaufwachsen, bis man einander kennenlernt, und dann haspelt man eben, weil man in so kurzer Zeit so viel nachholen muss. Da kannten Dieter und F ich uns gerade einmal zwei Stunden und eine halbe. Und hatten doch das Gefühl, wir kannten uns länger.
Es wäre gerecht gewesen von dem, der über unsere Zeit bestimmt, uns mehr gemeinsame Zeit zu geben. Als wir uns dann zum zweiten Mal trafen, und es war das letzte Mal, und es war hier in dieser Buchhandlung, da war die Stimmung bereits ganz anders: nämlich so, als träfen sich alte Freunde. Man sieht einen Freund zehn Jahre nicht mehr und dann wieder, und es ist, als wäre er nur schnell Zigaretten holen gegangen. So fühlte es sich an zwischen Dieter und mir. Aber so war es nicht. So viel Zeit wie diese beiden sprichwörtlichen Freunde haben wir leider nicht gehabt. Wir mussten mit Empfindung wettmachen, was uns an Jahren fehlte.
Aber ein Freund war er. Ich habe oft an Dieter Eikelpoth gedacht. Ich denke oft an Dieter.